Geschäftsgang des Reichs-Versicherungsamts
Titel: | Verordnung, betreffend die Formen des Verfahrens und den Geschäftsgang des Reichs-Versicherungsamts. |
Fundstelle: | Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1885, Nr. 26, Seite 255 – 262 |
Fassung vom: | 5. August 1885 |
Bekanntmachung: | 12. August 1885 |
Quelle: | Scan auf Commons |
(Nr. 1620.) Verordnung, betreffend die Formen des Verfahrens und den Geschäftsgang des Reichs-Versicherungsamts. Vom 5. August 1885.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc.
verordnen auf Grund des §. 90 des Unfallversicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 (Reichs-Gesetzbl. S. 69) im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesraths, was folgt:
I. Verfahren und Geschäftsgang im Allgemeinen.
§. 1.
- Die nichtständigen Mitglieder des Reichs-Versicherungsamts und deren Stellvertreter werden für die Erfüllung der Obliegenheiten ihres Amts von dem Staatssekretär des Innern mittelst Handschlags an Eidesstatt verpflichtet.
- Die von dem Bundesrath aus seiner Mitte gewählten Mitglieder nehmen ihre Stelle nach dem Vorsitzenden oder dessen Vertreter, also vor den übrigen Mitgliedern, in derjenigen Reihenfolge ein, welche für sie im Bundesrath besteht.
§. 2.
- Die Erledigung der Geschäfte erfolgt in der Regel in den Sitzungen, welche der Vorsitzende anberaumt.
- Zu diesen Sitzungen sind die in Berlin anwesenden Mitglieder unter Mittheilung der Berathungsgegenstände einzuladen.
- Die Entscheidung ist, soweit nicht in dem Unfallversicherungsgesetze (§. 90) oder in dieser Verordnung ein Anderes bestimmt ist, durch die Anwesenheit von mindestens drei Mitgliedern (einschließlich des Vorsitzenden) bedingt.
- In schleunigen Fällen kann der Vorsitzende eine schriftliche Abstimmung anordnen. Ergiebt sich hierbei eine Meinungsverschiedenheit, so muß die Entscheidung auf Grund gemeinsamer mündlicher Berathung erfolgen.
§. 3.
- Verfügungen, welche eine sachliche Entschließung nicht enthalten, insbesondere diejenigen, welche nur die Leitung des Verfahrens bezüglich eines anhängigen Rekurses betreffen, werden von dem Vorsitzenden oder unter dessen Mitzeichnung von demjenigen Mitgliede entworfen, welchem die Bearbeitung der Sache von dem Vorsitzenden übertragen worden ist.
- Im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem Vorsitzenden und dem gedachten Mitgliede oder im Falle des Widerspruchs eines Betheiligten gegen eine solche Verfügung entscheidet das Kollegium.
§. 4.
- Die Beschlüsse werden vorbehaltlich der Bestimmung im §. 15 auf Vortrag in nichtöffentlicher Sitzung nach Stimmenmehrheit gefaßt. Bei Stimmengleichheit giebt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.
- Bilden sich in Beziehung auf Summen, über welche zu entscheiden ist, mehr als zwei Meinungen, deren keine die Mehrheit für sich hat, so werden die für die größte Summe abgegebenen Stimmen den für die zunächst geringere abgegebenen so lange hinzugerechnet, bis sich eine Mehrheit ergiebt.
- Die Stimmen werden in nachstehender Reihenfolge abgegeben:
- 1. von den Berichterstattern;
- 2. von den Mitgliedern, welche durch die Vertreter der versicherten Arbeiter gewählt sind;
- 3. von den Mitgliedern, welche von den Genossenschaftsvorständen gewählt sind;
- 4. von den beiden richterlichen Beamten;
- 5. von den ständigen Mitgliedern;
- 6. von den vom Bundesrath aus seiner Mitte gewählten Mitgliedern;
- 7. von dem Vorsitzenden.
- Die Mitglieder des Bundesraths stimmen in der im §. 1 gedachten Reihenfolge.
- Die Reihenfolge der Abstimmung der Mitglieder innerhalb der übrigen Klassen richtet sich nach dem Dienstalter dergestalt, daß das jüngste Mitglied zuerst stimmt; bei gleichem Dienstalter hat das, dem Lebensalter nach jüngere Mitglied zuerst zu stimmen.
§. 5.
- Für den mündlichen Vortrag in den Sitzungen werden Berichterstatter von dem Vorsitzenden ernannt.
- Die Entscheidungen (Beschlüsse und Urtheile) sind in der für die Zufertigung an die Betheiligten geeigneten Form von den Berichterstattern zu entwerfen und in der Urschrift außer von diesen von dem Vorsitzenden zu zeichnen.
- Die Verfügungen und Entscheidungen ergehen unter der Bezeichnung: „Das Reichs-Versicherungsamt“ und werden in der Ausfertigung vom Vorsitzenden vollzogen.
§. 6.
- Der Vorsitzende leitet die Verhandlungen und Berathungen in den Sitzungen, er stellt die Fragen und sammelt die Stimmen.
- Meinungsverschiedenheiten über den Gegenstand, die Fassung und die Reihenfolge der Fragen oder über das Ergebniß der Abstimmung werden in Gemäßheit des §. 4 entschieden.
II. Verfahren und Geschäftsgang in den Fallen des §. 90 zu b und c des Unfallversicherungsgesetzes.
§. 7.
- Das Reichs-Versicherungsamt entscheidet in den Fällen des §. 90 zu b und c des Unfallversicherungsgesetzes in der Besetzung von fünf Mitgliedern mit Einschluß des Vorsitzenden, sowie von zwei richterlichen Beamten. Unter den fünf Mitgliedern muß sich je ein Vertreter der Genossenschaftsvorstände und der Arbeiter befinden.
- Die beiden richterlichen Beamten sowie zwei Stellvertreter für dieselben werden für die Dauer der zur Zeit ihrer Ernennung von ihnen bekleideten Reichs- oder Staatsämter vom Bundesrath gewählt und vom Kaiser ernannt.
§. 8.
- Der Vorsitzende setzt bei Beginn des Jahres – zum ersten Mal mit dem Inkrafttreten der im §. 111 Absatz 2 des Unfallversicherungsgesetzes erwähnten Kaiserlichen Verordnung – die Reihenfolge fest, in welcher die nichtständigen Mitglieder des Reichs-Versicherungsamts zu den Sitzungen einberufen werden. Gleichzeitig sind die Stellvertreter zu bezeichnen.
- Die Einberufung zu den einzelnen Sitzungen muß in der Regel mindestens zwei Wochen vor denselben erfolgen.
§. 9.
- Die Bestimmungen in den §§. 41 ff. der Civilprozeßordnung über die Ausschließung und Ablehnung der Richter finden auf die Mitglieder des Reichs-Versicherungsamts entsprechende Anwendung.
- Ueber das Ablehnungsgesuch entscheidet das Reichs-Versicherungsamt mittelst Beschlusses (§§. 2 ff.).
§. 10.
- Der Antrag auf Entscheidung des Reichs-Versicherungsamts (§. 32 des Unfallversicherungsgesetzes) sowie der Rekurs an dasselbe (§. 63 a. a. O.) muß an das Reichs-Versicherungsamt schriftlich gerichtet werden.
- In dem Schriftsatze ist der Gegenstand des Anspruchs zu bezeichnen, desgleichen sind die für die Entscheidung maßgebenden Thatsachen mit Angabe der Beweismittel für dieselben anzuführen.
- Für jeden Gegner ist eine Abschrift des Schriftsatzes beizufügen.
§. 11.
- Das Reichs-Versicherungsamt hat die Abschrift des Antrages dem Gegner zur Einreichung einer Gegenschrift binnen einer bestimmten, von einer Woche bis zu vier Wochen zu bemessenden Frist mitzutheilen. In der Aufforderung ist zugleich die Verwarnung auszusprechen, daß, wenn die Gegenschrift innerhalb der Frist nicht eingeht, die Entscheidung nach Lage der Akten erfolgen werde. Die Frist kann auf Antrag aus wichtigen Gründen verlängert werden.
- Der Gegenschrift ist eine Abschrift beizufügen, welche dem Gegner von dem Reichs-Versicherungsamt zuzustellen ist.
§. 12.
- Anträge und Gegenschriften (§§. 10, 11) müssen entweder von den Betheiligten selbst oder von ihren gesetzlichen Vertretern oder von ihren Bevollmächtigten unterzeichnet sein. Die Vollmacht muß schriftlich ertheilt werden.
- Das Reichs-Versicherungsamt kann Vertreter, welche, ohne Rechtsanwälte zu sein, die Vertretung geschäftsmäßig betreiben, zurückweisen.
§. 13.
- Die Entscheidung erfolgt auf Grund mündlicher Verhandlung vor dem Reichs-Versicherungsamt. Der Termin hierzu wird von dem Vorsitzenden anberaumt. Die Betheiligten werden mittelst eingeschriebenen Briefes von dem Termin mit dem Bemerken in Kenntniß gesetzt, daß im Falle ihres Ausbleibens nach Lage der Akten werde entschieden werden. Hält das Reichs-Versicherungsamt das persönliche Erscheinen eines Betheiligten für angemessen, so hat dasselbe die nach Lage des Falles an das Nichterscheinen sich knüpfenden Nachtheile in der Vorladung besonders zu bezeichnen.
§. 14.
- Gleichzeitig mit Anberaumung des Termins (§. 13) sind von dem Vorsitzenden ein erster und ein zweiter Berichterstatter zu ernennen; der erste Berichterstatter hat, sofern dies von dem Vorsitzenden angeordnet wird, vor dem Termin eine schriftliche Sachdarstellung vorzulegen.
§. 15.
- Die mündliche Verhandlung erfolgt in öffentlicher Sitzung. Die Oeffentlichkeit kann durch einen öffentlich zu verkündigenden Beschluß ausgeschlossen werden, wenn das Reichs-Versicherungsamt dies aus Gründen des öffentlichen Wohls oder der Sittlichkeit für angemessen erachtet.
- Die zur Verhandlung gelangenden Sachen werden der Regel nach in der durch den Vorsitzenden bestimmten, durch Aushang vor dem Sitzungszimmer bekannt zu machenden Reihenfolge erledigt.
§. 16.
- Die mündliche Verhandlung beginnt mit der Darstellung des Sachverhältnisses durch den ersten Berichterstatter, demnächst sind die erschienenen Betheiligten zu hören.
- Der Vorsitzende hat jedem beisitzenden Mitgliede des Reichs-Versicherungsamts auf Verlangen zu gestatten, Fragen zu stellen.
§. 17.
- Die mündliche Verhandlung erfolgt unter Zuziehung eines vereidigten Protokollführers. Von demselben ist ein Protokoll aufzunehmen, welches den Gang der Verhandlung im Allgemeinen angiebt. Anerkenntnisse, Verzichtleistungen, Vergleiche und solche Anträge und Erklärungen der Betheiligten, welche von den Schriftsätzen abweichen, sowie der Tenor des Urtheils sind in das Protokoll aufzunehmen.
- Dasselbe ist von dem Protokollführer und dem Vorsitzenden, in Fällen der Urtheilssprechung dagegen außer von dem Protokollführer von allen Mitgliedern zu unterzeichnen, welche an der Urtheilssprechung theilgenommen haben.
§. 18.
- Die Berathung und Entscheidung des Reichs-Versicherungsamts erfolgt in nichtöffentlicher Sitzung.
§. 19.
- Das Reichs-Versicherungsamt entscheidet innerhalb der erhobenen Ansprüche nach freiem Ermessen.
- Die Entscheidung erstreckt sich auch auf die in dem Verfahren vor dem Reichs-Versicherungsamt den Parteien erwachsenen Kosten, und auf die Frage, welcher Kostenbetrag zur zweckentsprechenden Wahrung der Ansprüche und Rechte nothwendig gewesen ist.
- Bei den Entscheidungen, welche auf Grund der mündlichen Verhandlung ergehen, dürfen nur Mitglieder mitwirken, vor welchen diese Verhandlung stattgefunden hat.
§. 20.
- Das Verfahren vor dem Reichs-Versicherungsamt ist kostenfrei; ein Ersatz der durch dieses Verfahren dem Reichs-Versicherungsamt verursachten baaren Auslagen durch die Parteien findet nicht statt.
§. 21.
- Die Entscheidung kann ohne vorgängige Anberaumung einer mündlichen Verhandlung ergehen, wenn beide Theile auf eine solche ausdrücklich verzichten.
§. 22.
- Der Vorsitzende verkündet die ergangene Entscheidung in öffentlicher Sitzung durch Verlesung des Beschlusses oder der Urtheilsformel.
- Wird die Verkündung der Gründe für angemessen gehalten, so erfolgt sie durch Verlesung derselben oder durch mündliche Mittheilung des wesentlichen Inhalts.
- Die Verkündung der Entscheidung kann auf eine spätere Sitzung vertagt werden, welche in der Regel binnen einer Woche stattfinden soll.
- In dem Falle des §. 90 zu c des Unfallversicherungsgesetzes ist dem Schiedsgericht, gegen dessen Entscheidung Rekurs eingelegt worden ist, Abschrift des Urtheils zu ertheilen.
§. 23.
- Das Urtheil wird nebst Gründen von dem ersten Berichterstatter entworfen und in der Urschrift von den ständigen, den durch den Bundesrath gewählten nichtständigen und von den richterlichen Mitgliedern, welche an der Verhandlung betheiligt gewesen sind, unterzeichnet.
§. 24.
- Im Eingange des Urtheils sind die Mitglieder, welche an der Entscheidung theilgenommen haben, namentlich aufzuführen; auch ist der Sitzungstag zu bezeichnen, an welchem die Entscheidung erfolgt ist.
- Die Ausfertigungen der Urtheile werden mit der Ueberschrift versehen:
- „Im Namen des Reichs“.
- Sie enthalten neben dem Siegel des Reichs-Versicherungsamts die Schlußformel:
- „Urkundlich unter Siegel und Unterschrift“
- „Das Reichs-Versicherungsamt“.
- „Urkundlich unter Siegel und Unterschrift“
- Die Vollziehung erfolgt durch den Vorsitzenden.
III. Besondere Befugnisse des Vorsitzenden.
§. 25.
- Dem Vorsitzenden steht die Leitung und Beaufsichtigung des gesammten Dienstes zu; er trifft die nähere Bestimmung über die Vertheilung der Geschäfte und ernennt insbesondere in den Fällen der §§. 14, 16, 27 und 88 des Unfallversicherungsgesetzes die Vertreter und Beauftragten des Reichs-Versicherungsamts.
§. 26.
- Der Vorsitzende ordnet die Einrichtung der Bureaus, der Akten und Geschäftsregister; ihm steht die Verfügung in allen Verwaltungsangelegenheiten des Amts, insbesondere in denjenigen zu, welche das Etats- und Kassenwesen, das Dienstgebäude und dessen Einrichtung, die Vervollständigung der Bibliothek und sonstige Anschaffungen betreffen.
§. 27.
- Mit Genehmigung des Reichskanzlers kann der Vorsitzende einen Theil seiner Befugnisse einem ständigen Mitgliede des Reichs-Versicherungsamts übertragen. Der Vorsitzende wird im Behinderungsfalle von dem nächstältesten ständigen Mitgliede vertreten.
IV. Innerer Geschäftsgang.
§. 28.
- Vorladungen und Zustellungsschreiben werden durch die Unterschrift des von dem Vorsitzenden dazu bestimmten Beamten und unter Beifügung des Siegels des Reichs-Versicherungsamts beglaubigt.
- In gleicher Weise erfolgen die in den §§. 14 und 16 des Unfallversicherungsgesetzes vorgeschriebenen Einladungen zu den General- und Genossenschaftsversammlungen. Dieselben können mittelst einfachen Briefes durch die Post bewirkt werden.
§. 29.
- Das Reichs-Versicherungsamt führt zwei Siegel:
- 1. ein großes Siegel, welches dem von dem Reichsgericht geführten entspricht und nur bei förmlichen Ausfertigungen, insbesondere der Urtheile gebraucht wird;
- 2. ein kleineres Siegel, welches den bei den Gesandtschaften des Deutschen Reichs eingeführten Siegeln entspricht mit der Umschrift: „Reichs-Versicherungsamt“.
V. Geschäftssprache.
§. 30.
- In Betreff der Geschäftssprache vor dem Reichs-Versicherungsamt finden die Bestimmungen in den §§. 186 ff. des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Januar 1877 entsprechende Anwendung. Eingaben, welche nicht in deutscher Sprache abgefaßt sind, werden nicht berücksichtigt.
VI. Geschäftsbericht.
§. 31.
- Am Schlusse eines jeden Jahres hat das Reichs-Versicherungsamt dem Reichskanzler einen Geschäftsbericht einzureichen.
- Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem Kaiserlichen Insiegel.
- Gegeben Bad Gastein, den 5. August 1885.
(L. S.) Wilhelm.
von Boetticher.